1. Platz    Eva Maria Albrecht

Wendepunkt

Der Raum ist dunkel. Lediglich durch den Türspalt und durch das kleine Fenster an der Wand dringt schwaches Licht in den Raum. Das Bett, auf dem du liegst, macht immer wieder seltsame Geräusche, die mich ständig aus dem Schlaf reissen. Seit Stunden versuche ich, eine halbwegs bequeme Position auf dem harten Sessel zu finden. Erfolglos. Mir ist bewusst, dass ich mich nicht beklagen sollte. Schliesslich bist du es, die leidet. Mein kleines Schlafproblem erscheint im Vergleich zu deiner Lage vollkommen belanglos. Ich weiss nicht, wie spät es ist und ob seit dem letzten Besuch der Schwester Minuten oder Stunden vergangen sind. Ich fühle mich, als wäre ich aus der Zeit gefallen. Es gibt kein Gestern und kein Morgen, nur das Hier und Jetzt. Einerseits möchte ich für immer in diesem Moment verweilen, ihn festhalten und nie wieder gehen lassen. Ich will dich festhalten und vor allem behalten. Andererseits würde ich am liebsten vorspulen, denn die Situation ist unerträglich. Ich bin nervös und möchte keinen Fehler machen. Ich sehne mich danach, etwas Bedeutsames für dich zu tun, etwas, das dich dein Leiden vergessen lässt, wenn auch nur für kurze Zeit. Dabei hast du bereits angefangen, dich zurückzuziehen. Du bist in dich gekehrt und schweigst meistens. Nie weiss ich, was gerade richtig ist, was du brauchst oder dir wünschst. Soll ich dir etwas erzählen oder mit dir schweigen? Möchtest du Musik hören oder bevorzugst du Stille? Willst du etwas frische Luft, oder ist dir vielleicht kalt? Wenn ich nur wüsste, was in deinem Kopf vorgeht.
Du regst dich. Sofort bin ich bei dir, ergreife deine Hand, frage dich, was du benötigst, ob alles in Ordnung ist. „Wenn überhaupt, dann nur Ja und Nein-Fragen stellen. Alles andere ist zu anstrengend,“ fällt mir einer der vielen Ratschläge ein, mit denen ich ungefragt überhäuft wurde. Ob alles in Ordnung ist, wiederhole ich meine Ja- und Nein-Frage. Trotz der Dunkelheit kann ich deinen verwirrten Blick gut erkennen. Du brauchst einen Moment, um dich zu besinnen. Vor ein paar Tagen, als du noch ausführlich sprechen konntest, sagtest du mir, dass du wunderschöne Träume hättest, von deiner Heimat, vom tiefblauen Meer und von der Sonne, die dich wohlig warm bescheint. Wenn du dann aufwachst, muss es besonders schlimm sein, immer wieder aufs Neue festzustellen, in welch auswegloser Lage du dich befindest. Dein Blick wird langsam klar. Du siehst mich. „Wasser“, flüsterst du angestrengt. Fahrig drücke ich den Knopf, um das Kopfteil deines Krankenbettes aufzurichten. Nicht zu schnell, aber auch nicht zu langsam. Ich weiss nicht, ob ich es gut mache. Du beklagst dich nicht. Wahrscheinlich kannst du es auch nicht. Sorgfältig musst du mittlerweile abwägen, was sich mit der nun so begrenzt zu Verfügung stehenden Kraft zu sagen lohnt und was nicht. „Hier,“ flüstere ich und drücke dir behutsam den Trinkbecher in die Hand. Ich flüstere, obwohl es nicht nötig wäre. Ich habe ja Kraft. Und dennoch wage ich es nicht, laut zu sprechen, als müsste man an diesem Ort eine demütige Stille wahren.
Du trinkst gierig. Ich habe Angst, dass du dich verschlucken könntest und ich weiss nicht, was ich dann tun sollte. Genauso wie ich Angst habe, dabei zu sein, wenn du qualvoll um Luft ringst, wenn dich einer deiner immer häufigeren Atemnotanfälle heimsucht oder wenn du dich übergeben musst. Trotzdem bleibe ich bei dir, denn ich fürchte mich genauso sehr davor, nicht an deiner Seite zu sein, wenn so etwas geschieht.
Vielleicht bleibe ich auch, weil ich immer noch auf den entscheidenden Moment warte. Auf das klärende Gespräch, auf die eine Lebensweisheit, an die ich mich mein restliches Leben lang erinnern kann. Vielleicht warte ich auch auf eine Entschuldigung. Bislang haben wir nicht einmal über dein unmittelbar bevorstehendes Ende gesprochen. So, als wäre das nur ein vorübergehender Besuch im Krankenhaus und du kämst bald wieder nach Hause. Dabei gibt es so viel, was ich dir sagen möchte und so viel, was ich von dir hören möchte. Das Ungesagte wiegt unheimlich schwer in diesem beengten Raum. Soll ich die Dinge, die mir auf der Seele brennen, ansprechen? Oder soll ich dich in Ruhe lassen, wie es mir die anderen raten? Schliesslich bin ich es, die weiterleben muss, die weiterhin eine funktionierende Mutter, Partnerin, Freundin und Mitarbeiterin sein soll. Sollte ich da nicht lieber reinen Tisch mit dir machen, bevor du gehst? So gerne würde ich mit dir reden. Wir wären hier unter uns. Könnten uns – vielleicht zum letzten Mal – so richtig austauschen. Vielleicht ist es aber tatsächlich zu spät. Ich spüre, wie du mir immer mehr entgleitest. Du baust rapide ab und die Geschwindigkeit, mit der dein Verfall voranschreitet, ist auf der einen Seite grausam, auf der anderen Seite aber auch tröstlich. Wer will schon über längere Zeit so sehr leiden?
Immerhin hast du jetzt ein Einzelzimmer bekommen. Vermutlich soll dir deine Zimmernachbarin nicht beim Sterben zusehen. Ich habe gehört, dass ihr ein ganz ähnliches Ende bevorsteht: Krebs im Endstadium, keine Heilung möglich, ja nicht einmal ein Aufschub. Dabei ist sie so alt wie ich. Das Alter ist kein Schutz vor Krankheit und schon gar nicht vor dem Tod. Und wahrscheinlich ist man sowieso nie bereit zu gehen, egal, wann es einen trifft. Aber muss es so ein qualvolles Leiden sein? Du warst immer so gepflegt und sehr auf deine Körperhygiene bedacht. Und jetzt liegst du da, blass und fahl. Du schwitzt unheimlich viel und stinkst. Mir wird etwas übel davon und ich rüge mich selbst für diesen Gedanken. Eigentlich wollte ich mich zu dir ins Bett kuscheln, dich im Arm halten. Aber ich bringe es nicht über mich, habe gleichzeitig jedoch auch die Sorge, dass ich mir genau das vorhalten werde: Dass ich dir an deinen letzten Tagen nicht das gegeben habe, was du so dringend gebraucht hast. Ich habe keine Ahnung mehr, was richtig und was falsch ist.
Deine Hand kann ich halten, immerhin. Vielleicht nicht einmal, weil du es brauchst, sondern ich.