3. Platz Priska Peci-Zurmühlen
Einmachgläser, Staublappen, Powerschaum
Ein Puzzleteil fehlte. Richard schaute unter den Tisch und zupfte einen Staubfaden vom dunkelbraunen Teppich mit dem Raupenmuster, den Elfriede vor 50 Jahren zur Hochzeit ausgewählt hatte. Er schob seine hängenden Augenlider mit dem Zeigefinger bis unter die Augenbrauen, die sich wie zwei filzige Wollmäuse über der Nase berührten. Alles in seinem Blickfeld verformte sich: der fleckige Tisch mit dem Puzzle, die zerkratzten Stühle, die durchgebogene Bücherwand, die Buchdeckel so brüchig wie der Zwieback im Küchenschrank. 1000 Teile. So stand es auf der Schachtel, die Richard auf den Stuhl gelegt hatte. Sie zeigte das Bild, das nun beinah fertig auf dem Tisch lag: ein glitzernder See, hohe Bergspitzen, der Himmel hellblau und die Wiesen in sattem Grün, ein Häuschen mit weissen Vorhängen und roten Fensterläden, ein Gartentisch mit einem dunkelgrünen Stuhl inmitten blühender Blumen und genau dort, wo der zweite Stuhl hinkäme, nichts, einfach nichts. Richard betrachtete das Loch im Puzzle, das wie gestanzter Fliegendreck als Platzhalter für den zweiten Stuhl das Bild besudelte. “999 Teile und eines fehlt. Das gibt’s doch nicht!” Richard führte schon lange Selbstgespräche, als wollte er sich vergewissern, dass ihn die Stimme nicht plötzlich verliess, grad so wie die Menschen in seinem Leben, deren Namen ihm nun nicht mehr einfallen wollten, weil sie in seinem Kopf nur noch kurz verweilten, bevor sie wieder verschwanden, wie ein Puzzleteil, das man nie mehr findet. Er schob den Stuhl ein wenig zur Seite, um den Tisch zu verschieben, doch der hatte so tiefe Spuren in den Teppich gegraben, da passte nicht mal ein Puzzleteil darunter. Richard zog die Pantoffeln aus und schaute, ob das Teil an den Sohlen klebt. Er holte die Taschenlampe aus der Küche und kroch dann auf allen vieren um den Tisch und um die Stühle. «Ich sollte mal die Batterie austauschen», murmelte Richard und schüttelte die Taschenlampe. Dann stellte er den Topf mit der verdorrten Yucca zur Seite, verschob die Vorhänge, die in verblichenem rotem Samt bis auf den Boden fielen. Richard hustete, als der Staub aus den Falten in die Luft aufwirbelte. Er verrenkte sich und hielt den schwachen Lichtstrahl der Lampe unter den Sessel. Dort lag eine dicke graue Staubschicht. Seit seine Frau Elfriede vor fünf Jahren verstorben war, liess Richard den Staubsauger im Putzschrank. Er nahm nun den linken Pantoffel und wischte den Staub unter dem Sessel zur Seite. Er musste furchtbar husten und niesen, danach war es wieder still. Er leuchtete noch einmal unter den Sessel und erreichte mit der rechten Hand etwas, das aussah wie ein Puzzleteil. Er pustete den Dreck weg. Ein gefaltetes Stück Papier mit Quadraten, so wie es Elfriede früher benutzt hatte, wenn sie aufschrieb, was sie alles einkaufen wollte, bevor sie aus dem Haus ging. Richard setzte sich in den Sessel und entfaltete das Papier. Dann stand er auf und holte seine Brille, die auf dem Tisch lag. Er setzte sich wieder und las: Einmachgläser, Staublappen, Powerschaum für Teppich. Richard runzelte die Stirn und schaute auf das Foto von Elfriede auf dem durchgebogenen Bücherregal: „Einmachgläser. Staublappen. Powerschaum?“ Richard lachte so laut, dass er wieder husten musste. “Ok, Elfie, hab verstanden.“ Er stand auf, holte eine Tüte in der Küche, steckte den Zettel in die Tasche seiner Strickjacke. Der Zettel verhedderte sich in den Wollfäden der Jacke und Richard zog am elastischen Saum. „Ach! Hier bist du!“ Er hielt das Puzzleteil gegen das Fenster. Man erkannte deutlich den grünen Stuhl. „Schau mal.“ Er ging zum Foto auf dem Regal. Dann drehte er sich um und stand vor den Tisch. Das Teil passte haargenau ins Puzzle und Richard betrachtete das Bild mit den zwei Stühlen. Er warf noch einmal einen Blick zum Foto: „Ich geh jetzt einkaufen, Elfie. Einmachgläser, Staublappen, Powerschaum. Bis später!»